Weshalb der Notfall-Zuschlag gesundheitspolitischer Schwachsinn ist

Mit dem Vorschlag wird eine Lösung gesucht, um die Notfälle oder angeblichen Bagatell-Notfälle zu reduzieren. Der Motionär hat Recht, wenn er sagt, dass die Infrastruktur der Behandlung auf dem Notfall für einige Fälle nicht bedarfsorientiert bzw. überdimensioniert ist und ein Gang zu einer Hausarztpraxis manchmal sinnvoller sein könnte.

Der Motionär vergisst aber sehr Vieles in seinen Überlegungen:

Der „Emergency Severity Index“ misst die Fallschwere (1-5). Die umgangssprachlich genannten „richtigen Notfälle“ (ESI 1-3) rechtfertigen eine Notfallbehandlung und machen den Hauptteil aus. Und die wohl vom Motionär gemeinten und despektierlich „Bagatellfälle“ genannten Notfälle (ESI 5) betrugen etwa im Universitätsspital Basel im Jahr 2016 gerade mal 2.5% der Fälle.

Aus unterschiedlichen Gründen ist ein simpler Zuschlag bei «unnötigen Bagatellen» gesundheitspolitischer Schwachsinn:

  1. 50 Franken mögen für einige nichts sein, für viele ist das aber viel Geld. Dies bedeutet, dass eine Zugangshürde für finanzschwächere Personen zur Notfallversorgung aufgebaut wird. Dies obwohl bereits im heutigen Finanzierungssystem des Gesundheitswesens ein (zu) hoher Anteil «out of poket» finanziert ist (Selbstbehalt, Franchise etc.).
  2. Die Einführung von 50 Franken «Busse» könnte Menschen mit gravierenden Beschwerden davon abhalten, auf den Notfall zu gehen. Da die meisten Menschen keine medizinische Ausbildung haben, können sie nicht abschätzen, welches die Ursachen der Beschwerden sind. Dies kann zu einer Unterversorgung oder zu schweren Verläufen führen. Beides ist schlimm, Letzteres führt zudem zu hohen Folgekosten.
  3. Ein Denkfehler ist auch Folgendes: Wer stuft dann ein, wann etwas eine Bagatelle ist? Was wenn ein als „Bagatelle“ klassifizierter Fall später zu Komplikationen führt? Und was passiert bei multimorbiden Personen, bei denen auch eine kleinere Beschwerde massive Folgen haben kann?

Lösungen (oder zumindest sinnvolle Ansatzpunkte), um die Notfälle zu entlasten und eine bedarfsgerechte Versorgung zu implementieren gibt es, aber diese sehen ganz anders aus:

  1. Triage bei den Notfällen einrichten (sofern noch nicht getan): Damit wird die kostenintensive Notfallinfrastruktur entlastet. Das Universitätsspital Basel hat z.B. gemeinsam mit der medizinischen Gesellschaft Basel eine hausärztliche Notfall-Praxis errichtet.
  2. Netz der Grundversorger:innen verbessern: Damit kann erreicht werden, dass effektiv alle einen Grundversorger/eine Grundversorgerin für die Erstkonsultation finden.
  3. Krankenversicherungsmodelle wie HMO attraktiver machen: Damit werden Anreize geschaffen, zuerst Allgemeinmediziner:innen zu kontaktieren.
  4. Hausarztmodelle bekannter machen: Alle Menschen sollen einen Hausarzt / eine Hausärztin haben, welcheR sie ggf. auf den Notfall einweisen kann.  
  5. Gesundheitskompetenz der Patient:innen stärken.

Deshalb ist ganz klar: Nein zu diesem gesundheitspolitischen Schwachsinn. Konzentrieren wir uns auf richtige Lösungen. Und bekämpfen wir endlich auch die finanziellen Fehlanreize der Leistungerbringer:innen!

In diesem Zusammenhang habe ich einen Artikel aus dem Jahr 2019 gefunden, als ich mich mit dieser Thematik beim Universitätsspital Basel auseinandergesetzt habe: https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/uberfullte-notfallstationen-jeder-dritte-konnte-auch-zum-arzt-ld.1362842