Redebeitrag zur Verleihung des Prix Social vom 19. August 2020
Der Prix erhielt der 45-jährige Verein „Neustart“ für das Engagement von Beratung von Straffälligen und deren Angehörige.
Liebes Organisationskomitee vom Prix Social beides Basel, liebe Vertreterinnen und Vertreter des Berufverbandes Avenir Social, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, künftige Preisträgerinnen und Preisträger, liebe Gäste
Es hat unsere Gesellschaft aufgerüttelt und durchgeschüttelt. Das Corona-Virus. Die Angst vor dem Unbekannten, die Angst, dass es auch in der Schweiz zu medizinischen Engpässen kommen könnte und Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal hätten entscheiden müssen, wer noch medizinisch versorgt wird und wen man dem Tode überlässt.
Die Bilder aus Bergamo waren bewegend. Es war die Angst, dass Fachpersonal und Infrastruktur fehlen könnten, Lieferketten plötzlich nicht mehr funktionieren und eine Unterversorgung eintritt.
Tiefgreifende Massnahmen wurden ergriffen. Die Gewährleistung der medizinischen Grundversorgung und der Schutz von medizinisch vulnerablen Personen stand im Vordergrund. Zeit für demokratische Absprachen und interdisziplinären Austausch mit anderen gesellschaftsrelevanten Berufsgruppen war wenig..
Auch wenn diese Massnahmen notwendig waren und letztendlich grosses Leid verhinderten, die Kosten und Folgen sind sowohl auf der finanziellen wie auch auf der persönlichen Ebenen gigantisch. Corona und der gesellschaftliche Umgang mit dieser Krise werden tiefe Spuren hinterlassen.
Wenn man den Szenarien glauben schenken mag, dann stehen wir erst am Anfang einer wirtschaftlichen Rezession.
Erinnern Sie sich an die ersten Bilder der Menschenschlangen vor der Essensausgabe in Genf? Sie haben der Schweiz aufgezeigt, dass es tausende von Menschen sind, die unter prekären Bedingungen leben. Vielen von ihnen hat diese Krise das schon zuvor instabile Fundament auf dem sie standen, unter den Füssen weggerissen. Nur dank dem Engagement einer grossen Anzahl an Freiwilligen und vielen engagierten Sozialarbeitenden konnten diese Menschen mit dem Grundlegendsten versorgt werden.
Auch die Lebensrealitäten vieler vor der Krise noch in stabilen Verhältnissen lebenden Personen haben sich innert Monaten verändert. Auch ihnen wurde der Boden unter den Füssen weggezogen.
Der Kollaps des Gesundheitswesens konnte fürs Erste verhindert werden. Wir haben gelernt mit dem Virus umzugehen. Wir konnten in der Zwischenzeit Material wie Beatmungsgeräte und Masken anschaffen, Personal nachschulen und ein Contacttracing aufbauen, so dass wir auch bei steigenden Fallzahlen handlungsfähig bleiben und das Schlimmste verhindern könnten.
Nun steht die vielleicht noch viel grössere Herausforderung an. Wie können wir die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, die erst noch kommen werden, bewältigen? Wie können wir künftig Menschenschlangen vor der Essensausgabe verhindern? Wie können wir mit arbeitslosen Menschen umgehen? Welche Perspektive können wir bieten? Wie können wir der nun sehr sichtbaren Einsamkeit von vielen Menschen entgegenwirken?
Während in einer ersten Phase mit einem grossen Effort und unabhängig von Parteizugehörigkeit und politischer Orientierung auch durch die Politik die nötigen wirtschaftlichen und sozialen Massnahmen zur Absicherung getroffen wurden, hat Corona in dieser ersten Phase aufgezeigt, dass es den Staat als Sicherungssystem braucht. Die Nachhaltigkeit dieses Bewusstseinswandels kann jedoch gut in Frage gestellt werden.
Wir sind zunehmend wieder im alten Fahrwasser.
Ich muss gestehen, ich hatte die Hoffnung, dass diese Krise das Bewusstsein gerade auch in der Politik verändert. Ich hatte gehofft, dass beispielsweise ein Jobverlust nicht mehr als primär individuelles Verschulden angeschaut wird, sondern der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang und vor allem die Verantwortung zur Unterstützung, ernster genommen wird.
Doch in Internetforen und Kommentarspalten wird schon jetzt wieder argumentiert, dass beispielsweise jemand der in der Gastronomie seinen Job verliert, ja eigentlich selbst schuld sei, da er sich ja einen besseren oder sicheren Job hätte suchen sollen. Dieses Denken wird sich – so fürchte ich – in künftigen politischen Entscheidungen niederschlagen.
Nun, man könnte ab diesen Gedanken resignieren und den Kopf in den Sand stecken. Im Sinne – nichts gelernt aus der Krise, alles wie zuvor. Doch es gibt auch eine zweite Seite, welche doch Hoffnung macht.
Am 13. März 2020 – drei Tage vor dem Lockdown, das nationale Grossveranstaltungsverbot wurde gerade erlassen – ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Plötzlich wurde vielen die Ernsthaftigkeit der Situation klar. Was noch vor kurzem undenkbar und weit weg in Wuhan war – war bei uns angekommen und würde nun auch auf uns zukommen. Am gleichen Tag noch haben beispielsweise einige engagierte Personen die Website hilf-jetzt.ch registriert und damit versucht das in den folgenden Tagen entstandene freiwillige Engagement zu strukturieren.
Auch wenn wohl mehr Engagement wie Bedürftigkeit da war, zeigte sich, dass es viele Leute in diesem Land gibt, die gewillt sind etwas zu verändern, die gewillt sind, einen Unterschied zu machen. Es waren diejenigen, die schlussendlich geholfen haben, die langen Schlangen von Menschen ohne Essen in Genf und an anderen Orten zu versorgen. Es waren jene, welche Aktivitäten gegen plötzliche Vereinsamung oder Jobverlust lanciert haben. Viele Sozialarbeitende haben in diesen ersten Stunden mitgewirkt und ihr Wissen und Können in den Dienst der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität gesteckt.
Diese Krise hat gezeigt, dass wenn wir wollen, wir innert kürzester Zeit politisch Milliardenbeträge verfügbar machen könnten. Es hat gezeigt, wie wertvoll und existentiell die Freiwilligenarbeit ist. Gleichzeitig zeigte es auch auf, dass es Menschen braucht, die dieses freiwillige Engagement strukturieren und nicht jedes Problem von freiwilligen Laien gelöst werden kann. Fachpersonen wie Sie werden benötigt – unter anderem zur Koordination in der Freiwilligenarbeit. Aber noch in vielen anderen Bereichen.
Doch nun stehen wir eben an dem Punkt, an dem sich weiterhin drängende Fragen stellen: Wie können wir künftig Menschenschlangen vor der Essensausgabe verhindern? Wie können wir mit arbeitslosen Menschen umgehen? Welche Perspektive können bieten? Wie können wir der nun sehr sichtbaren Einsamkeit von vielen Menschen entgegenwirken?
Und auch hier – wir sind auf Sie als Fachpersonen angewiesen. Die akute Krise ist vorbei. Die Krise aber noch lange nicht.
Wie wir diese heranrollende soziale und wirtschaftliche Krise meistern, liegt nun an uns allen – an Ihnen wie auch an mir. Es braucht unser aller Engagement für eine lebenswerte Welt. Es braucht Sie, die wissen, was ihre Adressatinnen und Adressaten überhaupt brauchen. Die aufzeigen, welche Nöte vorhanden sind und der Öffentlichkeit glaubhaft vermitteln können, welche Hilfe nötig ist. Es braucht Sie, die ihrer Zielgruppe eine Stimme geben. Es braucht Sie, die ihre Zielgruppe motiviert und befähigt, für sich selbst einzustehen.
Nur dann haben wir die Chance das in der Krise nun sichtbar gewordene Potential der Gesellschaft zu nutzen – die Herausforderungen gemeinsam zu meistern.
Ich möchte mich bei Ihnen herzlichst bedanken für Ihr Engagement! Für ihre wichtige Arbeit! Danke.
(Es gilt das gesprochene Wort)